S06: "Bringing Gender into Science – and Back!" Historische und ethnographische Perspektiven auf die biologische Geschlechtsentwicklungsforschung

Forderungen nach einer Berücksichtigung von Geschlechterdiversität und der Etablierung von gender-informierten Ansätzen in Biologie und Medizin gründen auf der Einsicht, dass die biologischen Analysen von Geschlecht auf komplexen Prozessen der Wissensgenerierung und Wissensvalidierung beruhen. Doch bis heute ist zu beobachten, dass auch weiterhin die binär strukturierten Konzepte in diesen Forschungs- und Praxisfeldern dominieren.

Ziel des Teilprojekts ist es, die binär geschlechtlich strukturierten Bedingungen und Konzepte des biomedizinischen Wissens historisch wie laborethnographisch herauszuarbeiten.

Im Fokus dieser Untersuchung steht erstens die wissenschaftshistorische Analyse der endokrinologischen Forschung zur Geschlechtsentwicklung im deutschsprachigen Raum zwischen 1950–1990. In der Rekonstruktion von theoretischen Ansätzen und endokrinologischen Experimentalsystemen zur pränatalen Geschlechtsdifferenzierung durch Testosteron, wie sie namentlich mit den mikrochirurgischen Experimenten von Alfred Jost verbunden sind, werden die etablierten Annahmen über die Geschlechtsentwicklung nachvollzogen, die bis heute biowissenschaftliche Forschung prägen. Von besonderem Interesse ist dabei, wie sich ein entsprechendes Forschungsfeld in der Bundesrepublik und der DDR etablierte.

Im zweiten Teil des Projektes werden Wissensproduktionsprozesse zur Geschlechtsentwicklung in einem molekularbiologischen Labor aus gendertheoretisch informierter Perspektive untersucht. Die fortlaufende ethnographische Beobachtungsarbeit in einem konkreten Raum – Science in Action – geht der Frage nach, wie unter technologischen Bedingtheiten Wissen zu geschlechtlicher Differenz geformt wird. Ein enger Austausch innerhalb des ethnographisch-historischen Projekts, aber auch mit dem molekularbiologischen Forschungsteam M02 ermöglicht neue Perspektiven auf die komplexen Verflechtungen von Geschlecht, Forschung und Gesellschaft.

Das übergeordnete Ziel des Projektes ist es, in einem fortlaufenden Dialog zwischen Molekularbiologie, Wissenschaftsgeschichte und Ethnographie reflexive Perspektiven in einem konkreten Forschungszusammenhang zu stärken und eine nachhaltige Kooperation zwischen den Geistes- und Lebenswissenschaften zu etablieren.